Vorschein einer anderen, besseren Welt

Dario Azzellini gibt einen Überblick über rückeroberte Betriebe in Europa, Lateinamerika, Ägypten und der Türkei

Von Helge Buttkereit

Von der Krise führt kein direkter Weg in den Sozialismus. Gleichwohl können bestimmte selbstorganisierte Lösungswege aus der Krise heraus eine andere Welt vorscheinen lassen. Dies gilt besonders für rückeroberte Betriebe unter der Kontrolle der Arbeiter (RBA), die Dario Azzellini in seinem Buch „Vom Protest zum sozialen Prozess“ beschreibt. In der Krise wurden die Fabriken von ihren Besitzern geschlossen, verlagert oder verlassen. Die Arbeiter besetzten sie, um die weitere Ausplünderung, eine Abfindungszahlung oder die Schließung zu verhindern. Die Besetzung ist jeweils eine Reaktion auf eine Krise, eine notgedrungene Strategie in der Defensive. Eine Produktion unter Arbeiterkontrolle war in den wenigsten Fällen das Ziel. Sie entwickelte sich in vielen Gesprächen, Versammlungen und zum Teil durch Unterstützung von anderen betroffenen Arbeitern.

Dario Azzellini ist Soziologe und Politikwissenschaftler. Er hat viel in und zu Venezuela sowie über die bolivarische Revolution geforscht und veröffentlicht. In Venezuela rief Hugo Chávez die Arbeiter auf, verlassene Betriebe zu übernehmen. Neben den Beispielen in Venezuela, die er bereits in früheren Büchern ausführlich beschrieben hat und die zumindest teilweise auch in der derzeitgen Krise weiter arbeiten, besuchte Azzellini in den vergangenen Jahren viele Betriebe in Arbeiterkontrolle in Europa oder in Lateinamerika, interviewte die Protagonisten und begleitete sie in ihrem Kampf. Sein Buch gibt einen Überblick über viele verschiedene Beispiele, stellt diese kurz vor und versucht, auch weitergehende Schlussfolgerungen zu ziehen.

Betriebe, die sich zu RBAs entwickeln, wurden zuvor meist von ihren Besitzern geschlossen. Die Arbeiter besetzen sie, fordern die Fortführung der Produktion und bekommen Unterstützung durch die Gesellschaft und zum Teil auch durch öffentliche Stellen. Im Prozess des Protestes entwickelt sich in vielen Fällen ein aktiver Kern der Belegschaft heraus, der am Ende oft die Basis der neuen selbstorganisierten Produktion bildet. Dass eine solche überhaupt wieder aufgenommen werden kann – oft mit finanzieller Unterstützung durch den Vorbesitzer sowie den Staat bzw. lokale oder regionale Strukturen – ist am Anfang nur in den seltensten Fällen der Plan der Belegschaft. Diese will ihr Auskommen sichern, ihre Familien ernähren.

Die Übernahme der Produktion in eigener Kontrolle ist die Ultima Ratio, wenn nichts anderes geht – schließlich ist sie durch viele Unwägbarkeiten und Unsicherheiten gekennzeichnet. Auf dem Weg dorthin vollzieht sich bei den Arbeitern aber ein Bewusstseinsprozess, der ihnen – oft unterstützt durch solidarische Kollegen und ein solidarisches Umfeld – ermöglicht, das Heft des Handelns in die eigenen Hände zu nehmen und auf diese Weise neue Wege zu gehen. Neue Wege, die in vielen Fällen sowohl gegen die Gewerkschaften als auch gegen linke Parteien durchgesetzt werden müssen.

Viele Gewerkschaften sehen RBAs schon deshalb kritisch, weil sie in ihrer Rolle als Angebotskartelle von Arbeitskraftbesitzern auf das Fortbestehen des Lohnarbeitsverhältnisses angewiesen sind. Azzellini arbeitet für die von ihn vorgestellten Beispiele und Länder heraus, dass dort keine traditionelle Gewerkschaft von sich heraus die Entstehung fördert. Die KP-nahe Gewerkschaft in Griechenland PAME beispielsweise lehnt sie als kleinbürgerlich ab. Die Gefahr, dass Arbeiter, die selbst produzieren und dabei von politischen sowie ökonomischen Kämpfen isoliert sind, sich zu kleinbürgerlichen Produzenten entwickeln, ist da, aber sie lässt sich abwenden. Hierfür müsste über eine politisch-ökonomische Organisation neuen (bzw. vor allem anderen) Typs als den bisherigen Parteien und Gewerkschaften nachgedacht werden. In einer solchen Organisation könnten die Erfahrungen der selbstorganisierten Produktion durch die Arbeiter im politischen und ökonomischen Kampf verallgemeinert werden, denn „durch ihre Aktivitäten und ihre Organisationsformen stellen die RBA Privateigentum an Produktionsmitteln, den kapitalistischen Produktionsprozess, herkömmliche Hierarchien und die kapitalistische Arbeitsteilung in Frage“, so Azzellini.

Dass die derzeitigen RBA nach den Ausführungen von Dario Azzellini aufs Ganze genommen eher organisationsfeindlich sind, kann man aus ihren Erfahrungen mit Gewerkschaften, mit Parteien oder auch wie im Fall Kazova Tekstil in Istanbul mit einer kleinen ML-Gruppe verstehen. Sie verbinden sich meist nur mit anderen Betrieben, mit lokalen Gruppen oder Netzwerken. Um gesamtgesellschaftlich agieren zu können, wäre eine syndikalistische Partei zu entwickeln, in der die unmittelbaren Produzenten mit ihren praktischen Erfahrungen in den RBAs neben anderen Verbündeten eine „Vorhut“ darstellen. Diese stünde in konkretem Gegensatz zum Avantgarde-Verständnis marxistisch-leninistischer Provenienz und die Rezeption anderer Kritiker des traditionellen Verständnisses proletarischer Organisation wie beispielsweise Karl Korsch mit seinen Arbeiten zur „industriellen Autonomie“ wäre ein wichtiger Baustein beim Aufbau dieses neuen Organisationstypus.

Dario Azzellini gebührt der Verdienst, die mannigfaltigen Erfahrungen selbstorganisierter Produktion gesammelt sowie kurz, knapp und verständlich aufgeschrieben haben. Sein Buch ist ein Beitrag zum Verständnis dafür, dass eine Welt von frei assoziierten und selbstorganisierten Produzenten eine konkrete Utopie ist.

Dario Azzellini, Vom Protest zum sozialen Prozess. Betriebsbesetzungen und Arbeiten in Selbstverwaltung. Eine Flugschrift, Hamburg: VSA Verlag, 152 Euro, 12,80 Euro