Utopische Realpolitik: Zusammenfassung

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1. Hoffnung

Lateinamerika ist wieder der Kontinent der Hoffnung. Der Hoffnung darauf, dass das Ende der Geschichte nicht erreicht ist, dass es möglich ist, dem allgegenwärtigen Kapitalismus die Stirn zu bieten. Dort, wo vor 35 Jahren nach dem Putsch des Generals Augusto Pinochet der vermeintliche Siegeszug des Neoliberalismus begann, wird ihm jetzt die Stirn geboten. Dem Schrei der Zapatisten „Es reicht“ („¡Ya Basta!“) vor 15 Jahren folgte die bolivarianische Revolution in Venezuela, die Neugründung Boliviens und die Bürgerrevolution in Ecuador. Alle drei eint trotz aller Differenzen mit den Zapatisten nicht nur die Gegnerschaft zu einer von den USA dominierten Welt. Sie wollen jeweils auf ihre Weise Schritte hin zu einem solidarischen Gemeinwesen gehen und machen es auch für die Menschheit begreiflich, dass eine andere Welt möglich ist.

Die Menschen in den Bewegungen Lateinamerikas sind es, die in der „Ersten Welt“ darauf hoffen lassen, dass nach dem Ende des Staatssozialismus im Ostblock noch nicht das Ende der Geschichte gekommen ist, sondern dass es eine Gesellschaft geben kann, in dem die Menschen sich nicht mehr als Sachen begegnen, sondern als wirkliche Menschen. Die Entwicklungen in Lateinamerika insbesondere in Venezuela, Bolivien, Ecuador und Chiapas geben Anlass zur Hoffnung, auch wenn sie noch weit davon entfernt sind, wirklich von der Allmacht des Kapitals befreite Länder zu sein. Aber sie haben sich auf den Weg gemacht. Dieser bildet den Mittelpunkt des Buches „Utopische Realpolitik – Die Neue Linke in Lateinamerika“. Es ist eine Einführung, eine Annäherung an das Thema aus einer subjektiven Perspektive. Der Perspektive eines Hoffenden, der sich über die Prozesse in Lateinamerika klar werden will und der quasi aus der Not heraus – ein solches Buch gab es bislang zumindest in Deutschland nicht – eine Überblicksdarstellung der derzeitigen Situation verfasst hat. Ziel ist es, über die Prozesse aufzuklären, eine weitergehende Diskussion über die Entwicklungen in Lateinamerika anzuregen und der Resignation der Linken positive Beispiele entgegen zu setzen.

Gerade der „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“, den Hugo Chávez propagiert, ist mittlerweile mehr als ein Programm. Der bolivarianische Prozess trägt die ersten Früchte, der Weg hin zu einer wirklich gerechten Gesellschaft ist mit den Sozialprogrammen in Venezuela, „Misiones“ genannt, beschritten worden. Flächendeckend sind Kooperativen gegründet worden, die Regierung unterstützt die Arbeiter, die stillgelegte Betriebe übernommen haben, und vor allem protegiert sie die Selbstorganisation, auch wenn es noch viel zu tun gibt. Chávez und seine Mitstreiter haben aus der Geschichte gelernt: Der „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ muss von der Basis ausgehen und darf nicht in eine Erziehungsdiktatur ausarten, wie sie die Staaten des Ostblocks über Jahrzehnte dominiert hat.

Dies ist einer der entscheidenden Faktoren, der es erlaubt, von einer „Neuen Linken“ in Lateinamerika zu sprechen. Einer Linken, die oft nach jahrelangem Kämpfen in den sozialen Bewegungen zu einem Faktor der Politik geworden ist, und es zumindest in Bolivien, Ecuador und Venezuela an die Spitze des Staates geschafft hat.

2. Der Text

Was macht die „Neue Linke“ in Lateinamerika aus? Was unterscheidet sie von der alten im Süden wie im Norden? Welche Entwicklungen geben überhaupt Anlass zur immer wieder beschworenen Hoffnung? Welche sind Sackgassen? Diesen Fragen geht das Buch nach. Ausgehend von einer doppelten Bestandsaufnahme der Voraussetzungen werden die aktuellen Bewegungen dargestellt. Zum einen geht es um den Neoliberalismus als herrschende Ideologie in Lateinamerika mit seiner Geschichte und seiner Gegenwart, denn genau gegen ihn und seine menschenverachtenden Auswirkungen richten sich die Bewegungen in allen genannten Staaten und Regionen. Zum anderen geht es aber auch darum, über eine kurze Betrachtung der Revolutionsvorstellungen zumindest Ansätze einer Selbstkritik der Linken bewusst zu machen und damit die Frage zu stellen, ob denn die bolivarische Revolution wirklich das Recht hat, von sich zu behaupten, es handele sich um eben eine solche Revolution? Die These des Buches lautet, dass jede Revolution ein Prozess ist, der ausgehend von den konkret gegebenen Bedingungen ganz im Sinne Che Guevaras versucht, das heute noch unmöglich scheinende möglich zu machen. Deswegen können wir für Venezuela, aber auch für Bolivien und Ecuador den Revolutionsbegriff verwenden und deswegen können wir die Politik dort mit dem Begriff einer „Utopischen Realpolitik“ beschreiben.

Wie diese konkret in den Ländern und Regionen aussieht, wird im ersten Kernkapitel des Buches beschrieben. Die Länderdarstellungen zu Venezuela, Ecuador, Bolivien und Chiapas erheben dabei nicht den Anspruch, einen kompletten Überblick über die Prozesse zu geben, sondern sie zeichnen knapp die Entwicklungen der vergangenen Jahre nach – gerade aufgrund der massenmedialen Verleumdungen, den auch viele Linke erliegen, ein wichtiger Aspekt –, weisen auf Probleme hin und liefern so die Grundlage für das Verständnis der wichtigen „Prinzipien der Neuen Linken“, die im zweiten Kernkapitel des Buches behandelt werden. Denn, wie Ecuadors Präsident Rafael Correa zurecht betont, geht es heute nicht darum, fertige Rezepte zu liefern und diese den Bewegungen bzw. den Ländern überzustülpen, sondern die Prinzipien sind Leitlinien, an denen sie sich orientieren und die konkrete Politik vor Ort realitätsgerecht ausrichten.

Der wichtigste Abschnitt des Buches behandelt deswegen auch die „Selbstorganisation der Basis“. Anders als in den herkömmlichen gerade auch linken Politikmodellen, in denen den Menschen von oben Handlungsanweisungen gegeben wurden, die diese dann auszuführen hatten, geht es gerade nach den Erfahrungen der Perversion dieser Vorstellungen darum, nicht nur die Menschen in den Mittelpunkt der Politik zu stellen. Sie müssen auch den Mittelpunkt bilden, indem sie die Politik selber gestalten. Die ländlichen und städtischen comunidades als lokale Gemeinschaften in Bolivien stehen am Beginn der Neugründung des Landes, die Organisationen in den Barrios von Venezuela stützen den Prozess und gestalten ihn heute immer mehr aus und auch die einzelnen Gemeinschaften in Chiapas sind Kern der dortigen zapatistischen Bewegung, ohne die auch eine „Andere Kampagne“ nicht möglich wäre. Eines der Probleme der Organisation der Bürgerrevolution in Ecuador besteht so darin, dass die organisatorische Verankerung an der Basis kaum gegeben ist, es andererseits aber einige interessante Beispiele von lokaler Organisation gibt, denen es kaum gelingt, Vorbild für das ganze Land zu sein. Diese werden ebenso wie Beispiele in anderen Ländern dargestellt, so dass Möglichkeiten und Grenzen der Basisorganisationen zur Sprache kommen. Ihre oft fehlende Verankerung in der Ökonomie gehört zu den größten Problemen, weswegen der konkreten „Solidarischen Ökonomie“ auf lokaler, regionaler und staatlicher Ebene ebenso nachgegangen wird, wie ihrer internationalen Vernetzung auf der ALBA-Ebene. „Solidarische Ökonomie“ steht dabei für eine andere, nicht-kapitalistische Ökonomie auf Basis der konkreten Beziehungen der Menschen untereinander, für die es Beispiele in allen untersuchten Ländern gibt, die aber noch nicht zur allgemeinen Praxis geworden sind und auch nicht immer im Mittelpunkt der Politik stehen, was in all ihrer Vielfalt für eine nachhaltige Entwicklung erstrebenswert wäre. Der als solcher umschriebene „Neue Internationalismus“ ist dabei unerlässlich, denn eine Revolution in einem Land ist, das zeigt schon der Blick in die Geschichtsbücher, zum Scheitern verurteilt – nicht nur in Lateinamerika.

Zum Abschluss geht das Buch noch auf verschiedene Überlegungen zum „Sozialismus im 21. Jahrhundert“ als Sozialismus der selbststätigen Menschen ein, die im Großteil aus den Erfahrungen des Kampfes in Lateinamerika selber entstanden sind. Insbesondere wird dabei auf Isabel Rauber, John Holloway, Michael A. Lebowitz und Marta Harnecker zurückgegriffen, da diese mit ihrer jeweiligen Arbeit interessante Ansätze nicht nur für das Verstehen der aktuellen Bewegungen, sondern auch für ihre Transformation von Lateinamerika in die „erste Welt“ geliefert haben. Dass dabei immer wieder auch auf solche Aktivisten und Publizisten wie Rudi Dutschke, Hans-Jürgen Krahl oder auch Tariq Ali verwiesen wird, zeigt nicht nur Standpunkt und Hintergrund des Autors, sondern auch, dass die „Neue Linke“ in Lateinamerika zumindest auf theoretischem Gebiet einige Parallelen mit der Neuen Linken zu tun hat, die sich in den 1960er Jahren in der „Ersten Welt“ herausbildete. Sie geht jedoch neue, eigene Wege und hat, so ist zu hoffen, nicht die gleichen Auflösungserscheinungen zu erleiden wie insbesondere die deutsche Studentenbewegung, deren Rezeption insbesondere in Organisations- und Revolutionstheorie die derzeitigen Entwicklungen besser verstehen helfen.

3. Probleme

Wer seine Hoffnung aus der Entwicklung in Lateinamerika zieht, der muss sich genau mit ihnen beschäftigen und sich der Realität stellen. Nicht nur die Putschversuche in Venezuela und Bolivien sind deutliche Warnungen. Die Entwicklung hin zum „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ hat viele Feinde. Ob die „Neue Linke“ stark genug ist, ihnen zu trotzen, ist derzeit offen. Auch die Gefahren im eigenen Lager, die „Bolibourgeoisie“ in Venezuela oder die Umarmungsstrategie gegenüber der rechten Opposition in Bolivien können Gefahren mit sich bringen. Der Caudillismo der Präsidenten als Führer der Bewegung oder auch der unkritische Bezug auf archaische Strukturen sind weitere aktuell drängende und gefährliche Probleme. Sie werden in der Auseinandersetzung mit der „Utopischen Realpolitik“ der Neuen Linken nicht übergangen, denn sie gehören dazu, will man Chancen und Möglichkeiten der Bewegungen einschätzen lernen, gleichzeitig realistisch bleiben und die Ziele einer befreiten Gesellschaft, einer „freien Assoziation der Produzenten“ (Marx) nicht aus den Augen verlieren.