Bolivien: Die Suche nach dem Programm der Neugründung

(erschienen in ak 558)

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Kurz vor dem fünfjährigen Jubiläum der Präsidentschaft von Evo Morales ist erneut eines der Hauptprobleme des Prozesses der „Neugründung Boliviens“ deutlich geworden. Die Regierung kürzte die Subventionen für Treibstoffe, wodurch die Preise drastisch stiegen. Schon die Form der Ankündigung ohne vorherige Konsultation der Bewegungen zeigte, dass alte Muster auch in der „Regierung der sozialen Bewegungen“ von Evo Morales nach wie vor an der Tagesordnung sind. Und die Bewegungen reagierten auf ihre Weise mit Protest und Widerstand. Anders als frühere Amtsträger lenkte Morales hingegen ein. Er wolle „gehorchend regieren“. Die Subventionen gelten also weiter. Aber weiterhin fehlt auch ein gemeinsames Programm von Regierung und Bewegung.

Nach dem überzeugenden Wahlsieg Ende 2009, durch den Evo Morales und die MAS nunmehr nicht nur das Präsidentenamt und die erste Kammer des Parlaments, sondern auch den bis dato von der Opposition dominierten Senat kontrolliert, sind nun Visionen und Gestaltungskraft gefragt. Während bis Ende 2009 die sozialen Bewegungen vor allem dann aktiv wurden, wenn es galt, gegenüber der rechten Opposition im Senat die Regierung zu unterstützen, hat sich das Bild an einigen Stellen gewendet. Nun richten sich die Forderungen verbunden mit Protesten wie im Fall der Preiserhöhungen für Treibstoffe Ende 2010 verstärkt an die eigene Regierung, die sich schließlich nach ihrer Geschichte zu Recht als „Regierung der sozialen Bewegungen“ versteht. Diese steht vor einem Problem. Das was Robert Lessmann in seiner einführenden Studie „Das neue Bolivien“ (Rotpunktverlag, 2010) kurz nach der Wahl 2009 konstatiert hat, gilt auch ein Jahr danach: „Die MAS und Evo Morales‘ Regierung der sozialen Bewegungen stehen noch vor der Herausforderung, permanente Strukturen für eine effektive Interessenartikulation dieser sozialen Bewegungen zu schaffen.“
Ein „Neukonstitutierung von Macht“ (Isabel Rauber) hat bislang ebenso wenig von Seiten der Regierung stattgefunden wie große Teile der Bewegung bereit zu sein scheinen, ihre traditionellen Formen des Protests hin zu einer neuen Form der protagonistischen Selbstregierung von unten zu transformieren. An einigen Stellen zeigte sich im Jahr nach der Wahl, dass diese Gemengelage eine Sprengkraft besitzt, der zwar derzeit noch mit Zugeständnissen der Regierung begegnet werden kann, die auf Dauer aber keine neue Form der Politik hervorbringt. Die Unzufriedenheit zeigte sich bei den Regionalwahlen im April 2010, als insbesondere solche Gruppen gestärkt wurden, die als ehemalige Verbündete oder Mitglieder der MAS nicht mehr auf der Liste der Regierung angetreten waren.
Die erste große Herausforderung für die Regierung durch die sozialen Bewegungen gab es im Mai 2010, nachdem der Präsident wie üblich am 1. Mai die Erhöhung des Lohns angekündigt hatte. Allerdings nur um fünf Prozent und nicht wie im Wahlkampf versprochen um zwölf. Zehn Tage später rief der Gewerkschaftsverband COB erstmals seit Morales‘ Wahl 2006 zu einem Generalstreik auf, an dem sich aber nur elf der 50 Sektoren des Dachverbandes beteiligten. Die wichtigsten Stützen der Regierung, die indigenen Bauern in Hoch- und Tiefland, unterstützten die Regierung. Es war ein Streik der privilegierten Arbeiter in formeller Beschäftigung für mehr Geld. Aus Sicht des Bauernverbandes CSUTCB traf dieser nur die „Brüdern und Schwestern auf dem Land“.
In der Lohnfrage kam die Regierung den Streikenden nicht entgegen. Dafür aber wurde das Rentenalter gesenkt. Lag es bis dato bei 60 Jahren, wurde es generell auf 58 Jahre und bei Minenarbeitern, die unter Tage arbeiten, auf 51 Jahre gesenkt – ein Alter, das dennoch viele der Bergleute nicht erreichen. Diese Zugeständnisse brachten die meisten der Streikenden dazu, den Ausstand zu beenden. Der Gesetzgebungsprozess wiederum zeugt von einer neuen Einbindung der Arbeiter durch die Konsultation und nicht zuletzt wurden die weitreichenden Neuregelungen im Dezember 2010 vom Präsidenten in der Zentrale des Gewerkschaftsbundes unterschrieben. Dies zeugt von der gewachsenen Qualität der Zusammenarbeit, während die Regierung im Verlauf des Streiks noch mehrfach die Aktivisten scharf angegriffen hatte. Sie agierten gegen die Neugründung des Landes und würden nur ihr eigenes Interesse in den Mittelpunkt stellen. Mehr als fünf Prozent Lohnerhöhung sei nicht drin, hieß es. Von Seiten der Arbeiter Boliviens zeigte der Streik, dass die althergebrachten Kampfformen der Arbeiter für diese weiterhin Bezugspunkt geblieben ist. Ein alternatives Programm, etwa der Kampf für Arbeiterkontrolle, der in Venezuela geführt wird, gibt es derzeit nicht. Dabei würde eine solche Orientierung nicht nur kurzfristig mehr Geld bringen, sondern langfristig dem Prozess der Neugründung ein Fundament geben, das nicht mehr der Kapitallogik gehorcht. Derzeit sieht das Wirtschaftsprogramm der Regierung mehr nach der Stärkung der staatlichen Kontrolle über die Wirtschaft und damit letztlich nach einem Staatskapitalismus aus.
Dagegen und für neue Politikformen könnte auch die Regierung einiges tun. Sie kann die Rahmenbedingungen für eine Selbstorganisation der Arbeiter schaffen, was jedoch derzeit nicht auf der Agenda zu stehen scheint. Derzeit verfolgt die Regierung neben der Unterstützung der Gemeindewirtschaft die staatszentrierte Form der nachholenden kapitalistischen Entwicklung. In diesem Rahmen sind Streiks in der Form, die der COB im Mai 2010 führte, wiederum eine logische Reaktion und das Beispiel zeigt, wie sehr eine Transformation des Bewusstseins auf beiden Seiten, von oben und unten, notwendig ist, um ein wirklich neues Bolivien zu erreichen. Dieser Wandel ist ein langer Prozess, auf dem, wie das Beispiel der Rentengesetzgebung zeigt, schon einige Fortschritte erreicht worden sind. Das spiegelt sich auch im Bewusstsein einiger, aber eben bei weitem noch nicht aller Aktivisten der Basis wieder. So stellt beispielsweise Alina Canaviri Sullcani, die lange Jahre in der indigen-bäuerlichen Frauenbewegung in Santa Cruz aktiv war, in einem Interview heraus, wie wichtig es für die Indigenen ist, dass sie in der neuen Verfassung wahrgenommen, dass ihre Rechte erkannt werden. „Wir als soziale Organisationen haben im Bereich der Partizipation viel erreicht“, sagt sie. Die wichtigste Aufgabe sei die soziale Kontrolle und dass die neuen Gesetze der Regierung von den Bewegungen diskutiert und eingebracht werden.
Neben der Unterstützung und Partizipation an der Regierung werden aber auch immer wieder Verwerfungen zwischen Regierung und Bewegungen sichtbar. So forderten Indigene aus dem Amazonasgebiet im Juni 2010 von der Regierung eine Stärkung der Autonomie. Der Konflikt stellt sich dabei ähnlich dar wie der in Ecuador. Die Regierung will Rohstoffe ausbeuten und damit die Entwicklung der Wirtschaft vorantreiben, die Betroffenen richten sich dagegen oder wollen zumindest bei der Ausgestaltung der Projekte mitreden. Dabei werden einige Organisationen noch dazu von den Vereinigten Staaten und der rechten Opposition in Bolivien unterstützt, die hoffen, so einen Keil in die Bewegung zu treiben und damit tendenziell die Regierung zu schwächen, was auch immer wieder gelingt. Besonders nachhaltig in Potosí.
Das Departement im Süden des Landes ist das ärmste des ganzen Landes und gleichzeitig gehören seine Bewohner zu den wichtigsten Unterstützern der Regierung von Evo Morales. Fast 80 Prozent stimmten bei der Wahl im Dezember 2009 für die MAS und so wollen die Bürger nun auch eine deutliche Verbesserung ihrer Lage sehen, die sich seit dem Amtsantritt des Präsidenten nicht maßgeblich geändert hat. Die Unzufriedenheit gepaart mit einem oppositionellen Stadtrat und den Ambitionen eines oppositionellen Bürgermeisters in der gleichnamigen Departementshauptstadt waren die Hauptgründe für die Proteste im Juli und August 2010. Offiziell ging es um sechs Streitpunkte, die allerdings zum Teil – wie die Grenzstreitigkeiten mit dem Nachbardepartement Oruro – schon eine jahrelange Geschichte haben. Die Protestierenden forderten Infrastrukturprojekte wie den Ausbau des Flughafens oder den Bau einer Zementfabrik. Sie sahen sich gegenüber den Nachbarn aus Oruro benachteiligt, da diese von der Regierung Versprechungen erhalten hatten, die sich die Menschen in Potosí ebenfalls erhofften. So radikalisierte sich der Protest hin zu einer Blockade der Stadt, die über fast drei Wochen lang nicht nur das öffentliche Leben in Potosí, sondern auch einige nahe gelegene Bergwerke und Fabriken lahm legte.
Die Menschen forderten die direkte Verhandlung mit dem Präsidenten, da sie den Ministern vorwarfen, nicht in ihrem Sinne zu handeln. Der Präsident schickte dennoch Mitglieder seines Kabinetts, die nach zähen Verhandlungen letztlich einen Kompromiss erreichten. Potosí bekommt den internationalen Flughafen und eine Zementfabrik – ebenso wie Oruro. Der legendäre Berg Cerro Ricco, dessen Silber und Zink in der Kolonialzeit die Bedeutung von Potosí ausgemacht hat und dessen verblieben Reste heute noch unter äußerst gefährlichen Bedingungen abgebaut werden, wird gesichert, so dass die Bergleute weiter arbeiten können. Wiederum waren es Zugeständnisse der Regierung gegenüber den Bewegungen, die mit Streiks und Blockaden vor allem die Partizipation an der Entwicklung des Landes forderten, nicht aber Schritte der Selbstermächtigung in die Wege leiteten.
Diese Form der Politik passt zur traditionellen assistentialistischen Form der Politik, die derzeit von der Regierung Morales betrieben und die beim Aufbau des neuen Boliviens schnell an ihre Grenzen kommen wird. Die Sozialprogramme der Phase von 2006 bis 2009 haben einiges erreicht, aber die Proteste des Jahres 2010 zeigen, dass an einer neuen Politik im Verhältnis zur Basis in den sozialen Bewegungen kein Weg vorbei führt. Dass Morales nach den Treibstoff-Protesten eingelenkt ist und die gegen den Schmuggel in die Nachbarländer zweifellos notwendige Kürzung der Subventionen im Dialog mit den Bewegungen angehen will, zeigt in die richtige Richtung. Aber Dialog ist noch kein gemeinsames Programm.
Wichtig wäre, dass die Menschen Boliviens sich künftig als Protagonisten des Aufbaus einer neuen Gesellschaft verstehen. Die Möglichkeiten der Demokratisierung durch die in der Verfassung garantierte Autonomie auf der Ebene der Bezirke, Provinzen, Munizipien und Regionen könnte im besten Fall so funktionieren, wie dies der bolivianische Anwalt und Publizist Hugo Moldiz Mercado beschreibt: „Konkret bedeutet es, dass die politische Macht nicht nur auf der Ebene der nationalen Regierung wirkt, sondern sie steigt bis nach ,unten‘ hinab, bis zur kleinsten Gebietseinheit.“ Von dieser aus, von der Gemeinschaft der Indigenen könnte der spezifische Sozialismus in Bolivien aufgebaut werden.
Dabei kann sich dieser Sozialismus allerdings nicht allein auf die derzeitige konkrete Form der Gemeinschaft der Indigenen stützen, wenn er wirklich emanzipatorisch sein will. Moldiz Mercado hat völlig recht, wenn er darauf verweist, dass eine neue Lektüre von Marx in Bolivien sich gerade auch auf dessen radikale Kritik der (kapitalistischen) Moderne stützen kann. Wenn die Bolivianer dabei allerdings vergessen, dass beispielsweise das Reich der Inkas als Bezugsrahmen alles andere als eine befreite Gesellschaft und damit die indigene Dorfgemeinde Teil einer despotischen Herrschaftsstruktur war, dann werden sie auch so keine wirkliche Befreiung erreichen. Was Marx unter Rückgriff auf den Ethonolgen Morgan im 19. Jahrhundert zur Transformation der russischen Dorfgemeinde gesagt hat, kann auch für Bolivien gelten: „Das neue System, zu dem die moderne Gesellschaft tendiert, ,wird eine Wiedergeburt des archaischen Gesellschaftstypus in einer höheren Form sein’“ (MEW 19, 386).

Der Text ist ein leicht bearbeiteter Auszug aus dem Epilog der zweiten aktualisierten und erweiterten Auflage von Helge Buttkereit, Utopische Realpolitik. Die Neue Linke in Lateinamerika, Pahl-Rugenstein Nachfolger, Bonn 2011, 16,90 Euro (erscheint im März)