„Das neue Bolivien“

Robert Lessmann, Das Neue Bolivien. Evo Morales und seine demokratische Revolution, Rotpunktverlag, Zürich 2010, 252 Seiten, 22 Euro.

Rezension erschienen in: „Bolivien im Umbruch. Der schwierige Weg zur Neugründung“, Bd. 2, Leipzig 2010, S. 634-639

Nach vier Jahren Präsidentschaft von Evo Morales und seiner beeindruckenden Wiederwahl im Dezember 2009 ist ein erster zusammenfassender Überblick über die Entwicklung des neuen Boliviens fällig. Im deutschsprachigen Raum ist dafür kaum einer besser qualifiziert als Robert Lessmann, der sowohl über das alte wie auch das neue Bolivien schon umfangreich publiziert hat. Dass er mit „Das neue Bolivien – Evo Morales und seine demokratische Revolution“ die erste Gesamtdarstellung der Neugründung des Landes vorgelegt hat, ist deshalb folgerichtig. Lessmann hat ein Referenzwerk verfasst, das weit in die Geschichte zurückblickt, um die aktuelle Situation besser einordnen und beschreiben zu können.

Lessmann steht dabei dem „Proceso de Cambio“, dem Wandlungsprozess im Sinne der Neugründung des Landes, grundsätzlich positiv gegenüber. Er spart aber auch nicht mit Kritik, wenn er sie für notwendig erachtet. Dass die Darstellung der Geschichte zum Teil fundierter und konsistenter erscheint, wundert dabei nicht. Denn natürlich kann die aktuelle Situation noch nicht abschließend bewertet werden. Grundsätzlich aber ist für Lessmann eine Veränderung zum alten, neoliberalen Modell, zur alten Abhängigkeit vom Westen deutlich erkennbar: „Alles in allem wurde der versprochene Prozess des Wandels eingeleitet, der besonders in Lateinamerika – als möglicherweise beispielgebend – aufmerksam verfolgt wird, dessen Richtung sich abzeichnet, der aber nach der Einschätzung des Vizepräsidenten mehrere Generationen dauern wird“ (S. 15).

Der Autor verfällt nicht der in Bolivien zum Teil vorherrschenden Romantik des Alten. Er sieht die Möglichkeiten und die Potenzen in einer Rückbesinnung auf das Gemeinschaftsgefühl der Indigenen, aber er beschreibt auch ganz eindeutig die Despotie der vorkolonialen Zeit. Es wird in Lessmanns Darstellung klar, dass die neue Gesellschaft, wenn sie eine befreite Gesellschaft sein will, zwar auf der alten aufbauen muss und dort auch viele Bezugspunkte findet, sie aber vieles von dem abstreifen muss, was die Menschen über Jahrhunderte, man kann fast sagen Jahrtausende in Abhängigkeit und Unfreiheit gehalten hat.

Gerade in Bolivien ist es wichtig, die archaischen Strukturen zu kennen und zu verstehen, da sie teilweise so gut wie ungebrochen und ansonsten untergründig fortbestehen. Lessmann: „Unter der Decke eines nach europäischem Muster gestrickten politischen und gesellschaftlichen Systems lebte eine indianische Parallelwelt weiter, mit ihrer traditionellen Medizin, mit eigenen Mechanismen kollektiver Entscheidungsfindung und Rechtsprechung“ (S. 17). Die Regierung Morales ist sich schon ob ihrer Basis aus den indigenen sozialen Bewegungen dessen bewusst. Es besteht die Chance, dass vielleicht erstmals in der Geschichte der emanzipatorischen Bewegung kein – oft nur scheinbarer und deklamierter – Bruch mit dem Alten oder eine reine Rückbesinnung stattfinden kann. Es besteht die Chance, dass Marx‘ auf Russland bezogene, aber durchaus auch auf Bolivien übertragbare Feststellung Wirklichkeit wird, die Dorfgemeinde könne „Stützpunkt der sozialen Wiedergeburt“ (MEW 19: 243) sein, denn, so schrieb Marx in Anlehnung an den Ethnologen Morgan, „das neue System, zu dem die moderne Gesellschaft tendiert, ,wird eine Wiedergeburt des archaischen Gesellschaftstypus in einer höheren Form sein’“ (MEW 19: 386).

Dass Lessmann in der Beschreibung der bolivianischen Geschichte respektive der indigenen Hochkulturen auf das Marxsche Modell der „asiatischen Produktionsweise“ mit ihrer politischen Form der „orientalischen Despotie“ zurückgreift (S. 59), die konkreter als „Wasserbaugesellschaften“1 beschrieben werden können, ist folgerichtig und ein Hinweis für weitere, breiter angelegte Studien der andinen Geschichte. Diese erscheinen umso notwendiger, wenn Lessmann mit Begriffen wie „Feudalisierung“ (S. 77) oder „semifeudalen Wirtschaft“ (S. 87) hantiert, die er nicht spezifisch definiert und letztlich nicht haltbar sind, versteht man unter Feudalismus – nach Marx – eine progressiv-voranschreitende, durch die Dialektik von Stadt und Land, ein besonderes Heereswesen sowie eine spezifische Verbindung von Ackerbau und Viehzucht bestimmte Gesellschaftsformation.2 Hier wäre noch vieles zu bearbeiten, denn nur eine kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte ermöglicht den Aufbau einer neuen Gesellschaft aus der Alten, ohne dass untergründige Strukturen weiterbestehen und die Versuche am Ende wieder nur zu einer despotischen Herrschaft degenerieren, wie dies in der Sowjetunion oder auch in China der Fall war oder noch ist. Dass Lessmann diesen geschichtsphilosophischen Rahmen nicht bearbeiten kann, ist nachvollziehbar, die Problematik der Begrifflichkeiten bleibt.

Er setzt dennoch bei der historischen Betrachtung der Tiwanaku- und Inka-Kulturen wichtige Eckpfeiler, was ihn vor Verklärung und Mystifikation schützt. Denn natürlich ist der ayllu als in abgelegenen Regionen noch fast ungebrochene traditionelle Organisationsform der Gemeinde eine Form von Gemeinschaftlichkeit, die in der modernen, individualistischen, westlichen Gesellschaft verloren ist. Gleichwohl ist ihr Zwangscharakter nicht zu leugnen. „Andine Symbolik erlaubt Gruppenerkennung sowie Rückversicherung der Gruppenidentität und erfüllt darüber hinaus rituell-religiöse Zwecke im Sinne kollektiver Erinnerung. Ayllu ist Gemeinschaft, Weltsicht, Landschaft und Ritual, ein metaphorischer Makro-Haushalt“ (S. 31), schreibt Lessmann. Der Einzelne habe sich dem Kollektiv unterzuordnen, dessen Wille nicht von ihm in freier positivier Entscheidung für die Gemeinschaft, sondern von der abstrakten Logik einer außer ihm stehenden Gemeinschaft gebildet wird. Lessmann durchdringt dieses Kernproblem der Differenz von alter und potentiell neuer Gesellschaft zu wenig. Genau an diesem Punkt wäre es für die weitere Forschung nötig, nicht nur weiter in die Tiefe zu gehen, sondern auch die spezifischen Differenzen zu einer befreiten, antikapitalistischen Gesellschaft sowie deren Bedingungen herauszustellen.

Lessmann begnügt sich mit der Beschreibung dessen, was er aktuell und historisch vorfindet und das ist für die Übersichtlichkeit der Studie auch sinnvoll. Alles andere hätte die Arbeit überladen, zumal aufgrund der mangelhaften Vorarbeiten noch vieles auf dem Feld einer spezifisch historischen und ökonomischen Analyse zu leisten ist. Dennoch liefert der bis vor den Beginn unserer Zeitrechnung angesetzte historische Rückblick auf die Tiwanaku-Kultur, die über Jahrhunderte den Raum des heutigen Boliviens dominiert, viele Anknüpfungspunkte für das Verständnis des heutigen Boliviens. Die ayllu-Struktur bildete damals schon die Basis für die Organisation der Hochkultur, die Lessmann als „zentralisiertes Gemeinwesen mit fortlaufenden Knotenpunkten von Autoritäten, strategischen Interaktionen und Einflüssen“ beschreibt (S. 48) und die dann im 12. Jahrhundert möglicherweise aufgrund von Rivalitäten der Elitefraktionen gepaart mit einer Agrarkrise untergegangen ist (S. 52). Die Inkas, deren Reich streng genommen nur 95 Jahre existierte, übernahmen einige der Heiligtümer sowie der Herrschaftsformen der alten Kultur. Die Spanier wiederum, die das Inkareich im Laufe des 16. Jahrhundert besiegten, behielten ebenso Strukturen des Inkareichs bei und auch die mallkus, die Vorsteher der ayllus, behielten ihre Stellung. Nun waren sie neuen Herren verpflichtet.

„Die alten andinen Eliten lernten schnell die notwendigen Umgangsformen der spanischen Bürokratie, und die ethnische wurde bereits hier (noch im 16. Jahrhundert) auch zur Klassenbeziehung“, stellt Lessmann fest (S. 68). Ebenso kam es zu einer religiösen „Symbiose“, in der alte und neue Glaubensvorstellungen verschmolzen (S. 72). Für die meisten Bolivianer bedeutete die Conquista ansonsten ein elendiges Schuften im Bergbau oder aber für die auf dem Land verbliebenen die Fortdauer einer auf Subsistenz ausgerichtete Landwirtschaft. Ändern sollte sich das auch nicht mit der Unabhängigkeit – Lessmann folgt hier sicherlich zurecht der traditionellen Geschichtsschreibung –, sondern erst mit der Revolution von 1952. Ihren ökonomischen Kern, den Staatskapitalismus sowie dann später den Neoliberalismus der 1980er Jahre fasst er unter der Überschrift „Zwei gescheiterte Modelle“ treffend zusammen. Dabei integrierte die Revolution zwar große Teile der Bevölkerung, aber doch „nur zu einem gewissen Grade“ (S. 89). Die Diktatur der 1970er Jahre baute die Staatswirtschaft aus, konnte damit aber keinen Erfolg haben. Eine etwas genauere Analyse, warum denn der Staatskapitalismus in der Abhängigkeit zum Weltmarkt nicht in der Lage ist, eine eigenständige Entwicklung zu leisten, fehlt leider bei Lessmann. Er begnügt sich mit der Feststellung, dass die Wirtschaft zerrüttet gewesen sei, das Land verschuldet und international isoliert (S. 97).

Dem Staatskapitalismus folgte 1985 der Neoliberalismus und mit ihm begannen langsam und in den 1990er Jahren immer stärker auch die Gegenbewegungen Fuß zu fassen, da die Armut immer mehr zunahm und den einfachen Menschen beispielsweise die Alternative des Koka-Anbaus genommen wurde. Bei der kundigen und gut gegliederten Zusammenfassung der Entwicklung hin zu den diversen Staatskrisen Anfang des 21. Jahrhunderts, die in die Präsidentschaft von Evo Morales mündeten, kommt Lessmann seine Jahrelange Beschäftigung mit der Thematik zugute. Er versucht, die schwierige Gemengelage der Organisationen der Bauernschaft zu entwirren, was zwar nicht immer gelingt, was aber aufgrund der vielen unterschiedlichen Ebenen und Vereinigungen auch fast ein eigenes Buch nötig machen würde. Die Grundlinien des bolivianischen sindicalismo sowie der Struktur der Basisorganisationen werden klar und das ist gerade aufgrund der bei vielen Betrachtern immer noch herrschenden Unklarheit über den Charakter der Bewegungen des Landes ein wichtiger Beitrag des Buches.

Auf dieser Basis wäre es eigentlich sinnvoll gewesen, den Aufbau der heutigen Regierungspartei „Movimiento al Socialismo“ (MAS) und ihre Beziehungen zur Basis stärker zu durchleuchten, als es Lessmann tut. Denn nicht nur der Staat muss sich modifizieren, will er Ausdruck einer wirklichen Neugründung sein, auch die Bewegungen und ihre Partei müssen sich an die neuen Verhältnisse gewöhnen, in denen sie nicht mehr nur gegen, sondern für eine bestimmte Politik einzustehen haben. Diesem Grundproblem des aktuellen Boliviens hätte Lessmann nicht nur in der Darstellung der MAS, sondern allgemein beim darauf folgenden Überblick über die Entwicklungen seit 2005 vielleicht mehr Beachtung schenken sollen. Insbesondere über die Neudefinition des dialektischen Verhältnisses der Bewegungen zum Staat kann das neue Bolivien Realität werden. Wenn die Regierung die alten Muster des Staates übernimmt und die Bewegungen beim Protest stehen bleiben, wird keine neue Gesellschaft entstehen können. Der negativen Beschreibung der Problematik (S. 228) hätte zumindest eine positive Alternative gut getan, durchaus auch mit dem Blick über den Tellerrand hinaus. Hier hätte sich das neue Venezuela, das Lessmann fast gänzlich außen vor lässt und dem er scheinbar sehr skeptisch gegenüber steht, mit seinen im Aufbau befindlichen Strukturen der „Consejos Comunales“ und der „Comunas“ angeboten. Dass die bolivianische Regierung sich teilweise so verhielt wie eine außerparlamentarische Bewegung und im Prozess der Verfassungsgebung lieber soziale Organisationen schickte als die Polizei zeigt wie vieles andere, da ist dem Autor recht zu geben, dass noch einiges zu tun ist. Denn schließlich kann das auch bedeuten, dass die Regierung fürchtete, Polizei und Militär nicht unter Kontrolle zu haben (S. 142).

Um von einer Neugründung sprechen zu können, braucht es letztlich mehr als die zweifellos wichtige Landreform, deren Erfolge aber auch deren Grenzen Lessmann gut beschreibt. Dass das Eigentumsrecht für Land nach der Verfassung nur so lange gilt, wie es eine soziale und wirtschaftliche Funktion erfüllt (S. 165), zeigt nicht nur den indigenen Einfluss, sondern ist auch ein Schritt hin zu einer gemeinschaftlichen Produktion. Zumindest dann, wenn Sozial- und Wirtschaftspolitik und damit auch die Frage des Eigentums stärker bestimmt werden. Denn für eine Entwicklung weg vom Kapitalismus reicht eine Beschränkung auf eine neue Sozialpolitik nicht aus. Ein wie auch immer aufgefasster Keynsianismus (S. 14) führt in die Sackgasse, das hat die Geschichte gerade auch in Lateinamerika bewiesen. Dass auf diesem Feld noch sehr viele Unklarheiten bestehen, zeigt Lessmann auf, ebenso die Notwendigkeit, sich von der Abhängigkeit weiter Landstriche vom Koka zu befreien. Dass dies unter dem Kokabauernführer Evo Morales sicherlich einfacher geht als unter früheren Regierungen ist klar, denn „die im Konsens erzielten Reduzierungen haben gewiss größere Nachhaltigkeitschancen“ (S. 197), als die auf Zerstörung setzende Politik bis 2005. Es verwundert etwas, dass Lessmann die Rolle von ALBA auf dem Weg zu einer neuen Gesellschaft dabei nur am Rande erwähnt, ist doch ein alternativer, solidarischer Markt, an dessen Entstehen Bolivien einigen Anteil haben kann und auch schon hat, ein wichtiger Schritt weg von der Dominanz des neoliberalen Kapitalismus.

Zu recht bemängelt Lessmann, dass aufgrund fehlender Erfahrung in öffentlichen Ämtern und der Dominanz des Präsidenten bei vielen Entscheidungen eine „Tendenz zu untransparenten und autokratischen Strukturen“ angelegt ist (S. 231). Dem wäre durch das oben angedeutete notwendige neue Verhältnis zwischen Staat und Bewegung entgegen zu treten, was auf beiden Seiten Kompromisse nötig macht. Gerade auch mit Blick auf die Opposition, deren Autonomie-Forderungen Lessmann gut beschreibt und in ihrer Interessenlage anschaulich begründet, gibt es zu Morales derzeit keine Alternative. „Dessen Scheitern würde in der Tat die akute Gefahr bürgerkriegsähnlicher Auseinandersetzungen und eines Auseinanderbrechens der staatlichen Einheit implizieren.“ Dennoch: Der Autor schließt mit der vorsichtig optimistischen Einschätzung: „Das Pendel scheint – gerade nach dem Wahlergebnis vom 6. Dezember 2009 – sehr deutlich im Sinne des Wandels auszuschlagen!“ Wer dieses Wandel verstehen will, kommt um Lessmanns Buch nicht vorbei.

Helge Buttkereit

1Der Begriff stammt, hier ist Lessmann zu korrigieren, von Karl August Wittfogel und nicht von Immanuel Wallerstein.

2Vgl. hierzu die einführende Studie von Alfred Schröder, Asiatische, feudale oder kapitalistische Gesellschaft? In: http://www.kommunistische-debatte.de/geschichte/feudalismus1993.html (26.3.2010). Diese spezifische Verwendung des Begriffs ist sinnvoll, verliert er doch sonst seine Fähigkeit, die historische Realität abzubilden.